Kritik Festival
Girl Gang

Eine Filmkritik von Judith A., 15 Jahre

Dokumentarfilm, Schweiz 2022, 98 min.

5 von 5 Sternen

"Bedröppelt vor Glück" - oder?

Im Dokumentarfilm „Girl Gang“ begleiten wir die anfangs 14-jährige Influencerin „Leoobalys“ über einen Zeitraum von etwas mehr als drei Jahren durch ihren Alltag in Ostberlin.

Anfangs über eine halbe Million, am Ende die dreifache Anzahl Follower lässt sie mit Schnappschüssen auf Instagram, YouTube und Snapchat an ihrem Leben teilhaben und wird von großen Unternehmen mit Produkten versorgt, die sie wiederum auf den Social-Media-Kanälen bewirbt.

Davon profitiert nicht nur sie selbst. Im Gegenteil: Je erfolgreicher sie wird, desto lukrativer wird ihre Karriere auch für ihre Eltern. Deshalb beschließen diese irgendwann, ihr Management zu übernehmen. Zum einen, weil sie ihr Kind schützen wollen, zum anderen weil Vater Andreas, ein ehemaliger Barkeeper, aber auch ganz klar sagt: „Ich will nie wieder in mein altes Leben zurück“.

Doch es gibt auch Schattenseiten. Leonie gerät als typischer Teenager häufig mit ihren Eltern aneinander und vor allem ihre Mutter Sani plagt die Angst, den neu gewonnenen gehobenen Lebensstil wieder zu verlieren…

Im krassen Gegensatz dazu steht das Leben von Melanie, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter in einem kleinen bayerischen Ort lebt.

Die anfangs 13- Jährige vergöttert Leoobalys regelrecht und betreibt daher mit großem Engagement eine Instagram-Fanpage für sie. Getrieben von dem Traum ihr großes Idol einmal in der Realität zu treffen…

 

Hunderte Mädchen vor einem Absperrband. Ihr Level an Aufregung so weit jenseits von Gut und Böse, dass einige von ihnen Gefahr laufen in Ohnmacht zu fallen.
Obwohl die Bühne vor ihnen noch leer ist.
Angerückte Polizei, die droht, alles abzubrechen, bevor es überhaupt angefangen hat.
Alles mit fast choralen Gesängen und kirchlicher Orgelmusik unterlegt.
So beginnt „Girl Gang“: mit einem Fantreffen in einem Wiener Einkaufszentrum.
Tatsächlich muss ich sagen, dass mich bereits diese Szene einerseits extrem schockiert hat. Zugleich aber auch in der Hinsicht beeindruckt, dass ich sie unfassbar eindrücklich gestaltet finde.
Schockierend fand ich sie, weil mir vorher nicht so sehr klar war, welche Ausmaße Fankulte annehmen können und ich mir nicht vorstellen könnte, jemandem derartig zu idealisieren.
Besonders deutlich wird diese Idealisierung bei der zweiten Protagonistin des Dokumentarfilms, der 13-jährigen Melanie, die nicht ohne Grund als „Leos treuester Fan“ bezeichnet wird. Sie betreibt mit großem Engagement eine Instagram-Fanpage für Leo, verbringt teilweise 12 Stunden am Tag auf Instagram und vergießt Tränen, wenn ein Livestream mit ihr abbricht.
Gerade bei „Personen des öffentlichen Lebens“ ist dadurch oft kein Raum für ein kritisches Hinterfragen ihres Verhaltens gegeben, was meiner Meinung nach aber wichtig wäre.
Bezogen darauf finde ich auch die Wahl der Chorgesänge als Hintergrundmusik sehr interessant, da hiermit Parallelen zum Anbeten gewisser Gottheiten gezogen werden, die in einer Form der Vergötterung dieser 14- jährigen Influencerin von in etwa Gleichaltrigen gleichkommen.
Zwischenzeitlich werden aber auch thematisch passende Umfrageergebnisse eingeblendet, um eine davor getätigte Aussage einzuordnen. Diese sind ebenfalls mit den Chorgesängen unterlegt, was sie noch dramatischer wirken lässt, als sie sowieso schon sind.
Was ich außerdem für angemessen befunden habe, ist die Entscheidung der Dokumentarfilmerin, viel mit Metaphern zu arbeiten und die Geschichte in Form eines modernen Märchens zu erzählen. So wird etwa am Anfang ein Bild des Fernsehturms gezeigt, der im übertragenen Sinne als „Elfenbeinturm“ verstanden werden kann oder Smartphones werden als „kleine schwarze Spiegel“ bezeichnet, womit ein Bezug zum Märchen Schneewittchen hergestellt wird, in dem Spiegel ebenfalls eine zentrale Rolle spielen: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“.
Durch die Erzählweise eines Märchens wird meines Erachtens die Idealisierung der Person Leoobalys besonders betont.
Im Kontrast dazu steht meiner Ansicht nach die Szene, in der zu hören ist, wie sie sich beim Fantreffen lautstark bei den Anwesenden bedankt, die sich teilweise mit der Szene überschneidet, in der sie auf dem Rückflug nach Berlin im Flugzeug schläft.
Hier wird das Idealbild der immer lächelnden und lauten Influencerin kurz beiseitegeschoben und stattdessen gezeigt, dass auch bei ihr als „Person des öffentlichen Lebens“ irgendwann Erschöpfung eintritt.
Auch wenn die Fans das so erstmal nicht sehen.
Zusätzlich wird die immense Erwartungshaltung, zu liefern und die Schwierigkeit, mit unsachlicher Kritik umzugehen, von außen nicht wirklich sichtbar.
So gibt es beispielsweise zu Beginn eine Szene, in der sich Leonie mit einem Social Media Manager zu einem Beratungsgespräch trifft.
Dieser macht schon auf der Autofahrt zur Agentur sexistische Sprüche wie „er gehe nur mit hübschen Mädchen essen“, aber auch dort wird es nicht besser, denn er äfft Leonies Tonfall in ihrem Video nach und meint, sie sei „die Schwächste“ in ihrer Community, um sie dann aufzufordern, authentischer zu sein. Das trifft sie – obwohl er ihr vorher gesagt hat, sie solle „jetzt bitte nichts persönlich nehmen“.
Bei Leoobalys/ Leonies Eltern fielen mir gleich mehrere Dinge negativ auf, obwohl ich mir sicher bin, dass sie nur das Beste für ihre Tochter und sich wollen.
Besonders ihr Vater wirkte auf mich umso geltungssüchtiger und fixierter auf Geld, Follower und Likes, desto weiter die dokumentierte Filmhandlung voranschritt und der Erfolg seiner Tochter stieg.
Explizit fiel mir das auf, als gezeigt wurde, wie er mit jemandem telefonierte, weil Likes auf einer der Plattformen abgeschafft wurden.
Oder als er als mit Leonie, ihrer Mutter und einer anderen Influencerin im Auto auf dem Weg zu einem Event ist und so etwas fragt wie „ob sie eine Million im Auto zusammenbekommen.“
Er hat aber auch darauf hingewiesen, dass er „aus dem Osten kommt“ (seine Worte), weshalb ich davon ausgehen würde, dass er vielleicht früher von Armut betroffen war und sich Sorgen macht, finanziell wieder „unten anzukommen“.
Ich will „den Osten“ hier nicht pauschal als arm darstellen, es ist nur tatsächlich so, dass Ostdeutschland immer noch um 20 bis 25 % ärmer ist als Westdeutschland. (laut Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung, Halle)
Finanziell profitiert die Familie jedoch sehr von Leos Influencer-Dasein. Sinnbildlich dafür ist für mich am Ende des Films ein in den Boden eingelassener Swimmingpool, wo am Anfang noch ein Aufstellbarer stand, und die Tatsache, dass sie am Anfang noch mit einem Kia zu Events fahren und am Ende mit einem BMW.
Bei der Mutter wurde mir die starke Fixierung auf ihre Tochter besonders durch ihre Aussage deutlich, dass sie keine eigenen Träume und Ziele habe.
Ihre mütterliche Fürsorge zeigt sich aber auch in der etwas trostlosen Szene, in der sie im Schein ihres Handys Hasskommentare unter den Bildern ihrer Tochter löscht.
Ich würde nicht so weit gehen und sagen, dass das gemeinsame Management der Karriere ihrer Tochter das Einzige ist, was die Ehe der Eltern noch zusammenhält und sie, wenn das nicht gegeben wäre, ziemlich sicher getrennt/geschieden wären, aber was man, denke ich, auf jeden Fall sagen kann, ist, dass es extrem viel Raum einnimmt und das „normale“ Familienleben mit seinen kurzen Momenten der Leichtigkeit (die es natürlich auch gibt) ein Stück weit überschattet.

Fazit

Ein interessanter und zugleich bedrückender Einblick hinter die scheinbar perfekte Fassade eines Influencerdaseins! Sehr sehenswert!

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FILMDATEN

Regie: Susanne Regina Meures

Drehbuch: Susanne Regina Meures

Kamera: Susanne Regina Meures

Schnitt: Katja Dringenberg

Darsteller:innen: Leoobalys (in echt: Leonie Kullik); ihre Eltern Sandra und Andreas Kullik; Melanie als Fan

Altersempfehlung (FSK): Ab 6 Jahren

Meine Altersempfehlung: Ab 14 Jahren