Kritik Festival
So Damn Easy Going

Eine Filmkritik von Judith A., 15 Jahre

Spielfilm, Schweden/Norwegen 2022, 91 min.

4 von 5 Sternen

Verliebt im größten Chaos!

In Joannas Kopf ist ständig alles in Bewegung und durcheinander.

„Ich habe ein verf****** Stroboskop im Hirn.“, – so sagt sie es selbst im Streit mit ihrem Vater.

Medizinisch ausgedrückt: Die 18- Jährige ist von einer vergleichsweise starken Form der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, betroffen.

Als Kompensationsstrategien zur Bewältigung des Alltags dienen ihr „Sex on demand“ mit ihrem gleichaltrigen Mitschüler Matheus, heimliches Schwimmen im Hallenbad und für gewöhnlich ihre Medikamente.

Letztere fallen jedoch für eine gewisse Zeit weg, da ihr eingangs erwähnter Vater verwitwet und depressiv ist, deshalb nicht arbeiten kann und die letzten Apothekenrechnungen nicht bezahlt hat.

Die Apotheke weigert sich daher, die Medikamente herauszugeben, und Joannas Kreativität bei der Geldbeschaffung ist gefragt.

Neben einem Kondomverkauf an ihrer Schule und einem Besuch beim Pfandleiher kommt schließlich ein großer Drogendeal ins Spiel.

Mitten in diesem Chaos lernt sie Audrey kennen, eine durchaus attraktive Mitschülerin, die ihr sehr offensiv den Hof macht.

Das sexuelle Interesse füreinander ist auf beiden Seiten vorhanden, doch Joanna hat extreme Schwierigkeiten, sich Audrey auch emotional zu öffnen…

 

So damn easy going - ein Titel, der angesichts der emotional aufwühlenden Handlung des Films zunächst gar nicht passend erscheint.
Man könnte sogar sagen, dass er ihr geradezu widerspricht.
Schaut man sich den Film jedoch bis zum Ende an, wird klar, dass es sich um ein Zitat handelt, um eine Aussage, die eine Protagonistin über die andere tätigt.
Den genauen Kontext zu nennen, würde an dieser Stelle zu viel vorwegnehmen, aber das Selbstbild der Angesprochenen verändert sich unter anderem durch diese Aussage sehr zum Positiven - so viel sei gesagt.

Die Tatsache, dass es sich bei der Protagonistin um eine junge Frau mit ADHS handelt, ist mir sehr positiv aufgefallen, da diese neurologische Auffälligkeit bei weiblich sozialisierten Menschen äußerst selten diagnostiziert wird und erst in den letzten Jahren nach und nach mehr Sichtbarkeit und Aufklärungsarbeit darüber stattfindet— aktuell vor allem in sozialen Netzwerken wie Instagram oder TikTok.
Dies liegt primär daran, dass sich das psychopathologische Verhalten bei männlich sozialisierten Personen eher in Form von mangelnder Impulskontrolle, Aggressivität oder Wut äußert, also nach außen auffällig ist, während weibliche Betroffene eher dem unaufmerksamen Typus zuzuordnen sind und sozialisationsbedingt schon früh zum unbewussten Einsetzen sogenannter Coping- Mechanismen neigen.
Da sich ihre Symptomatik auf weniger auffällige Verhaltensweisen wie Tagträumen, Unaufmerksamkeit und Konzentrationsschwierigkeiten beschränkt, fallen sie durch das diagnostische Raster, in dem angegeben ist, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit das Verhalten als psychopathologisch gilt.
Auch wenn die Popkultur an der tatsächlichen Diagnostik natürlich nicht viel ausrichten kann, so ist sie doch ein Instrument zumindest Sichtbarkeit zu schaffen und Betroffene möglicherweise weniger alleine fühlen zu lassen.
Beim Schauen des Films ist auch zu merken, dass anscheinend im Vorfeld sehr viel Austausch mit tatsächlich Betroffenen von ADHS stattfand, da die bspw. ihr Zittern bei der Reizüberflutung sehr überzeugend dargestellt und ihre Angst, dass "alle sie ohne Medikamente hassen" sehr nachvollziehbar transportiert wird.

Kritisch anmerken würde ich allerdings die doch sehr explizite Darstellung der sexuellen Interaktion, sowohl die der zwischen Joanna und Audrey, als auch die der zwischen Joanna und Matheus.
Meiner Ansicht nach hätte es für das Verständnis der Handlung ausgereicht, gewisse Vorgänge wie etwa das Hin- und Herrutschen von Matheus, als er auf Joanna liegt, nur anzudeuten oder das laute Ausatmen wegzulassen.
Außerdem hätte man bei Joanna und Audrey beispielsweise die Knutschszenen, die einleiten, wie sie miteinander intim werden, etwas kürzen oder weniger intensiv gestalten können.
Es handelt sich zwar in beiden Fällen um einvernehmlichen Sex, aber ich bin mir nicht sicher, ob jüngere Kinder oder auch Kinder im FSK-Alter dies auch so einordnen können, da ein derart lautes Ausatmen ebenfalls unter starken Schmerzen stattfinden kann.
Was aber unbedingt lobend erwähnt werden muss, weil leider noch nicht selbstverständlich, ist die Tatsache, dass - zumindest laut Abspann - eine Intimitätskoordination am Set stattfand, d.h. die Sexszenen zumindest mit entsprechender Begleitung gedreht wurden.

Abschließend möchte ich aber noch einmal positiv hervorheben, dass im Film viele Themen behandelt werden, von denen es nie genug Repräsentation geben kann, wie ADHS, Depressionen oder nicht heterosexuelle Beziehungen.

Fazit

Ein bittersüßer Coming-of-Age- Film über eine intensive erste Liebe, der unbedingt nach einem zweiten Teil schreit!

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FILMDATEN

Regie: Christoffer Sandler

Drehbuch: Christoffer Sandler, Lina Åström, Jessika Jankert, Linda-Maria Birbeck

Kamera: Nea Asphäll

Schnitt: Jens Christian Fodstad, Robert Krantz

Darsteller:innen: Nikki Hanseblad, Melina Paukkonen, Shanti Roney, Emil Algpeus

Altersempfehlung (FSK): Ab 12 Jahren

Meine Altersempfehlung: Ab 14 Jahren